"Ein Instrument für Unternehmen, sich für die Zukunft richtig aufzustellen"
2024-10-04 12:18 AM
Ein Schreckgespenst geistert durch die Unternehmen: die doppelte Wesentlichkeitsanalyse. Die EU macht sie bei der Nachhaltigkeit für viele Firmen zur Pflicht. Expertin Meriem Tazir sieht darin auch eine große Chance. Die promovierte Nachhaltigkeitsexpertin berät Unternehmen bei der Strategieentwicklung und -umsetzung.
Frage: Frau Tazir, die doppelte Wesentlichkeitsanalyse ist das neue Schreckgespenst, das durch die Firmenetagen geistert. Wie furchterregend ist sie tatsächlich?
ZUR PERSON
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Frage: Die Europäische Union hat die doppelte Wesentlichkeitsanalyse in der Corporate Sustainability Reporting Directive verankert. Was verändert sich dadurch im Vergleich dazu, wie zuvor Wesentlichkeitsanalysen gemacht wurden?
Frage: Betrachtet man als Unternehmen damit jetzt mehr Aspekte als zuvor?
Tazir: Das würde ich so nicht sagen. Man betrachtet nicht mehr Aspekte, man betrachtet sie in einer anderen Abgrenzung zueinander. Man ändert etwas die Perspektive. Einmal schaue ich mir an, was meine Geldgeber, meine Beschäftigten, der Gesetzgeber, die Gesellschaft, meine Firmenkunden in Bezug auf Nachhaltigkeit von mir erwarten, welche Chancen und Risiken damit verbunden sind und welche finanziellen Implikationen das hat. Die zweite Perspektive ist, dass man schaut, was die positiven oder negativen Auswirkungen auf Menschen und Umwelt sind, die mit den Geschäftstätigkeiten entlang der Wertschöpfungskette verbunden sind.
Im Gespräch mit Ihren Stakeholdern lernen Sie, welchen Weg diese beschreiten werden und was sie in Zukunft benötigen. Dann wissen Sie, welche Bereiche im Unternehmen zukunftsfähig sind, welche transformiert werden müssen und welche Sie möglicherweise auch aufgeben müssen.
Frage: Wie geht man das Thema am besten an, wenn man noch nie eine Wesentlichkeitsanalyse gemacht hat?
Tazir: Es ist wichtig, dass man weiß, wer die Anspruchsgruppen um einen herum sind. Das wird in der Berichterstattung auch eingefordert: Unternehmen müssen darüber berichten, wie gut sie die Stakeholder in die Identifizierung der wesentlichen Themen einbezogen haben. Für mich ist eine solche qualitative Annäherung ein sehr sinnvoller Ansatz. Denn bevor man alles finanziell genau quantifizieren kann, muss man gerade als kleineres Unternehmen erstmal fokussieren, damit man sich nicht verzettelt. Und meistens kennen die Unternehmer und ihre Stakeholder diese Themen ganz gut. Diese erste qualitative Einschätzung kriegt man gut hin.
Frage: Was verschafft einem einen Rahmen für diese Gespräche?
Tazir: Es ist immer hilfreich, die 17 Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen (SDG) zugrunde zu legen, damit man an alle wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen denkt und für sich und mit den Stakeholdern herunterbricht, wie sie das Unternehmen betreffen. So hat man zunächst eine qualitative Analyse, die man später quantitativ auswerten kann.
Frage: Was für Fragen sollte man seinen Stakeholdern in solchen Gesprächen denn zum Beispiel stellen?
Tazir: Das ist keine Raketenwissenschaft. Es gibt dazu auch Vorlagen, die man jedoch unbedingt an das eigene Unternehmen anpassen sollte. Aber um ein Beispiel zu geben: Wenn Sie als Unternehmen auf Finanzierung angewiesen sind, dann sollten Sie die Bank fragen, welche Nachhaltigkeitserwartungen sie selbst erfüllen muss, zum Beispiel aus regulatorischen Gründen, und was das für die Erwartungen der Bank an ihr Unternehmen bedeutet. Was erwartet ihr von mir? Welche Kriterien muss ich erfüllen? Wie werden meine Kapitalkosten positiv oder auch negativ beeinflusst?
Frage: Wer ist im Unternehmen am ehesten geeignet, so eine Wesentlichkeitsanalyse durchzuführen?
Tazir: Es braucht alle Beteiligten. Die jeweiligen Abteilungen müssen die Themen mit ihrer Fachperspektive bearbeiten. Der Geschäftsleitung kommt eine besondere Bedeutung zu: Sie kennt die Prinzipien nach denen Risiken und Chancen finanziell bewertet werden und bringt das Top-down-Commitment an den Tisch. Und wichtig: Die Nachhaltigkeitsberichterstattung nach CSRD gehört künftig in den Lagebericht, der vom Wirtschaftsprüfer geprüft wird. Die zentrale Steuerung kann aber zum Beispiel vom Nachhaltigkeitsmanagement übernommen werden.
Frage: Welche Eigenschaften braucht eine koordinierende Person?
Tazir: Sie sollte gut mit anderen zusammenarbeiten, analytische Fähigkeiten, Methodenkenntnisse und ein gewisses Datenverständnis haben. Und sie muss gut vernetzt und nahbar sein.
Frage: Wie lange dauert eine Wesentlichkeitsanalyse, wenn man sie zum ersten Mal macht?
Tazir: Wenn man von Null anfängt, kann man in drei Monaten zu einer ersten guten Einschätzung kommen. Bis zur Vervollständigung der Analyse kann es aber sechs bis zwölf Monate dauern. Das hängt auch davon ab, wie groß und komplex ein Unternehmen ist.
LEITFADEN FÜR EINE WESENTLICHKEITSANALYSE
Für die Industrie- und Handelskammer Darmstadt hat Dr. Meriem Tazir mit ihrem Unternehmen einen Leitfaden zur Wesentlichkeitsanalyse erstellt. Er enthält auch Fragen für Stakeholder-Gespräche und eine Checkliste. Interessierte finden die Hilfestellung für KMU auf der Website der IHK. Hilfreich kann auch die Materiality Map der Nachhaltigkeitsorganisation SASB sein. Sie zeigt, wie sich insgesamt 26 Nachhaltigkeitsthemen in 77 verschiedenen Branchen jeweils auswirken. Damit können Unternehmen zügig erkennen, was für sie voraussichtlich die relevantesten Themen sein werden.
Frage: Nun liegt es nahe, die Wesentlichkeitsanalyse als regulatorisches Ärgernis zu verstehen. Liegen auch strategisch-unternehmerische Chancen darin?
Tazir: Absolut! Ich sehe die Wesentlichkeitsanalyse als strategisches Instrument für Unternehmen, sich angesichts all der globalen Herausforderungen für die Zukunft richtig aufzustellen. Wenn man diese Analyse ehrlich durchführt, dann erkennt man mögliche Schwachstellen und Risiken, die man sonst übersehen würde. Und man erfährt eben auch viel darüber, wo die Chancen für das Unternehmen liegen. Im Gespräch mit Ihren Stakeholdern lernen Sie, welchen Weg diese beschreiten werden und was sie in Zukunft benötigen.
Dann wissen Sie, welche Bereiche im Unternehmen zukunftsfähig sind, welche transformiert werden müssen und welche Sie möglicherweise auch aufgeben müssen. Oder Sie erkennen, wie sehr Ihre Lieferkette von schiffbaren Flüssen abhängt und können sich darauf einstellen. Bei der nächsten Dürre haben Sie dadurch dann möglicherweise einen Wettbewerbsvorteil, weil Sie weiterhin lieferfähig sind.
Am 18. September können Sie von Dr. Meriem Tazir lernen, wie Sie die Potenziale der Wesentlichkeitsanalyse nutzen und zur Grundlage Ihres Geschäftsmodells machen. Melden Sie sich jetzt zum Training Day Green Business an.